Samstag, 28. Juni 2008

Ein ganzheitlicher Blick auf Hedwig Dohm

von Marlies Hesse (Journalistinnenbund, Juni 2008)
Erstveröffentlichung unter http://www.journalistinnen.de/kolleginnen/lesefutter/rezension/rohner.html

Seit ihrem 175. Geburtstag ist die Schriftstellerin Hedwig Dohm (1831-1919) zunehmend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgekehrt. Wer annimmt, ihr umfangreiches Werk sei längst hinreichend analysiert worden, unterliegt einem Irrtum. Als brillante Essayistin und Polemikerin ist ihr Ruf zwar unumstritten, aber als Literatin geriet sie bis heute weitgehend in Vergessenheit. Nicht zuletzt daher, weil ihre literarischen Texte über Jahrzehnte hinweg in den Archiven verschwanden. Erst den Herausgeberinnen der Edition Hedwig Dohm, Isabel Rohner und Nikola Müller, ist es zu verdanken, dass seit 2006 eine kommentierte Gesamtausgabe des Werks der viel zitierten Ikone der frühen Frauenbewegung erscheint. Wer allein schon die ersten Bände mit den literarischen Texten sehr zu schätzen weiß, wird auf die ergänzende Lektüre der ebenfalls im Trafo Verlag veröffentlichten Dissertation von Isabel Rohner „In litteris veritas – Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Biografie “ keineswegs verzichten können.

Wissenschaftlich fundiert und aufwendig recherchiert setzt sich die Autorin darin mit bisher nicht widerlegten Fehlinterpretationen innerhalb der feministisch inspirierten Forschung auseinander. Insbesondere bei den Romanen und Novellen basierte sie in den 1970er und 80er Jahren vordergründig auf dem Auffinden von vermeintlich autobiografischen Fakten. Diese Reduktion zog schwerwiegende Fehldeutungen nach sich. Zum einen wurde der literarische und ästhetische Wert der Prosa von Hedwig Dohm damit völlig unterschätzt. Zum anderen flossen in die Darstellungen ihrer Biografie Zuschreibungen ein, die ihrem realen Leben nicht entsprachen. Künstlerisch-ästhetische Aspekte kamen bei dieser einseitigen Fokussierung nachweislich so gut wie gar nicht ins Blickfeld. Mit äußerster Akribie rückt Isabel Rohner die beschriebene Schieflage wieder zurecht. Nachdem sie im ersten Teil ihrer Studie die Mechanismen der Rezeption und das Textverständnis der Forschung untersucht hat, widmet sie sich im zweiten Teil ausführlich einer Literaturanalyse.

Am Beispiel des Romans „Schicksale einer Seele“ (1899, neu 2007), der von der Forschung bis zur Ausreizung autobiografisch gedeutet wurde, und der Novelle „Werde, die Du bist“(1894, neu 2006) in der eine weitere fiktive Biografie im Mittelpunkt steht, führt sie eindrucksvoll vor Augen, was verloren geht, wenn Texte rein auf biografisches Material hin gelesen werden. Ein besonderer Fokus von Rohners literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung liegt auf Dohms Ironie (in ihrem essayistischen Werk war sie dafür berühmt) und auf der differenzierten Herausarbeitung ihrer Identitätsphilosophie.

Trotz aller Kritik an den Dohm–ForscherInnen (eingeschlossen die teils jüngste und nachweisbar unreflektierte Biografie von Walter und Inge Jens über Hedwig Pringsheim-Dohm) verwehrt ihnen die junge Wissenschaftlerin (Jg. 1979) dennoch nicht die Anerkennung, Dohm nach vielen Jahren neu entdeckt zu haben.

Aus den nachvollziehbaren Korrekturen der von ihr belegten Forschungsfehler ergibt sich für die Leserin zwangsläufig die Wunschvorstellung, es möge jenseits einer biografischen Interpretation der Dohm-Texte doch noch einmal eine Biografie geben, die den wahren Gegebenheiten entspricht. Erst kürzlich aufgefundene Briefe von Hedwig Dohm und auch neues Quellenmaterial, das die Autorin im dritten Teil ihrer Arbeit auswertete, stützen diese Hoffnung. Vielleicht kommt sie sogar aus der Feder von Isabel Rohner. Immerhin ist es ihr schon mehr als jeder bisherigen Biografin gelungen, wichtige Forschungslücken zum Leben und Werk von Hedwig Dohm zu schließen. Auch abgesehen davon, hat sie mit dem vorliegenden Buch bereits einen unübersehbaren Grundstein für künftige Forschungen zur Namensgeberin der Hedwig-Dohm-Urkunde gelegt, die vom Journalistinnenbund für herausragende Leistungen von Kolleginnen jährlich verliehen wird.

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