Donnerstag, 26. Juni 2008

"Entschiedenes Talent zur Efeuranke"

Rezension von Irene Fleiß, in auf Wolfsmutter, 19.12.2007: http://wolfsmutter.com/artikel664

...hat Marlene, die Ich-Erzählerin dieses Romans. Ihre Autorin Hedwig Dohm hatte glücklicherweise entschiedenes Talent zum Schreiben eines geistreichen und eleganten Romans, gesellschafts- und frauenpolitisch relevant und voll Ironie.
ieser Roman ist unter zwei Aspekten interessant. Der eine sind Handlung und Stil; dazu komme ich noch. Der andere ist die Tatsache, daß dieser Roman Hedwig Dohms schon früh als autobiographisch aufgefasst worden ist, und zwar so sehr, daß man ihre Lebensdaten den Daten der fiktiven Marlene Bucher angepasst hat. Sicherlich gibt es einige Übereinstimmungen zwischen der Romanfigur Marlene und ihrer Autorin, aber das ist häufig zu finden, daß Autoren und Autorinnen gewisse Aspekte ihres Lebens in Romanen und Erzählungen verwenden. Die vielen Unterschiede wurden ignoriert: das Geburtsjahr, der Beruf des Vaters, die Zahl der Geschwister, die fürchterliche Ehe, die Theosophie und die Reise nach Indien. Die Anpassung des realen an das fiktive Leben ging und geht so weit, daß in Hedwig Dohms Biographien das Geburtsdatum der erfundenen Marlene angegeben wird. Hedwig Dohm hat aber “Schicksale einer Seele” ausdrücklich als Roman veröffentlicht und auch in ihren autobiographischen Angaben keine Parallelen zum Roman gezogen.Das Problematische an diesem Vorgehen der RezipientInnen, stellen die Herausgeberinnen fest, ist, daß das Prädikat “autobiographisch” eine literarische Abwertung einleitet. “Selbstverständlich flossen in Dohms Prosa eigene Erlebnisse mit ein - bei welchem Autor oder welcher Autorin wäre das auch nicht der Fall? Während diese harmlose Erkenntnisse bei männlichen Autoren jedoch eher als Ausdruck ihrer schöpferischen Fähigkeiten gilt, ihr Leben als Inspirationsquelle und Rohmaterial für die Literaturproduktion zu nutzen, sieht ein traditionelles Literaturverständnis in der weiblichen Autobiografin eine schlichte Abbilderin der Realität. Von Autorinnen geschriebene Prosatexte, die den Stempel Autobiografie tragen, haben - nach dieser Lesart - keinen literarischen Wert, sind bar jeder Konzeption und Kreativität.”Ein früher Versuch, Hedwig Dohm zu entschärfen, ihr ihre Bedeutung zu nehmen, auf den seitdem nahezu alle, auch feministische, BearbeiterInnen hereingefallen sind.Nun zum Roman selbst. Hedwig Dohm erzählt in Ich-Form die ersten 30 Jahre des Lebens der Marlene Bucher, die in den 1830ern geboren wurde. Sie beschreibt besonders Kindheit, Jugend und Ehe in Berlin mit viel Ironie. Sie nimmt niemanden dabei aus, nicht ihre Heldin Marlene (“Ich hatte doch mit meinem anschmiegsamen, zärtlichen Naturell entschiedenes Talent zur Efeuranke.”), deren Mann (dessen “Vielseitigkeit” auf dem Gebiet der Liebschaften “selbst platonische Beziehungen nicht” ausschloß) und die Menschen in ihrer Umgebung (bei deren Garderobe man “an einen geplatzten Regenbogen” hätte denken können). Krankheit und “eine angenehme Müdigkeit, in der das Dasein mich wie milde Luft umfließt, lind, einschläfernd” bestimmen täuschend die erste Seite von Marlene Buchers Lebensgeschichte. Für einen Freund hält sie den Verlauf ihres bisherigen Lebens fest, seine Ansprüche bestimmen Stil und Art der Niederschrift: “Recht schlicht und einfach soll ich erzählen, wie du es liebst. Versuchen will ichs; und laufen mir zu viel Bilder in die Feder, so streiche ich sie wieder aus.” Ironisch bricht Hedwig Dohm den Stil ihrer Erzählung, indem sie ihre Heldin fragen lässt: “Erzähle ich schlicht genug? Schläfst du dabei vor Langeweile ein? es geschieht dir recht. Du hasts gewollt.” Dieser ironische Beginn bestimmt den Stil des größten Teils des Romans und macht sehr viel von seinem Reiz aus. Denn schlicht und langweilig ist hier gar nichts, vom Anfang bis zum Ende nicht.Hedwig Dohm zeichnet ein detailgetreues Bild einer durchschnittlichen weiblichen Kindheit und Jugend in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ohne Diffamierung, doch auch ohne jegliche Beschönigung. Wir lesen von der traurigen Kindheit eines schüchternen, ängstlichen, unverstandenen und ungeliebten Mädchens, von einer Ehe ohne jede Chance, in die ein junges, naives Mädchen gerät. Schon in der Kindheit flüchtet Marlene sich in Träumereien und Luftschlösser. Als junges Mädchen wird sie mehr oder minder zufällig von einem Mann geheiratet, der einer anderen Ehe entgehen möchte und den sie “lieb hat”. Sie ist bereit, ihm eine gute Ehefrau zu sein, doch ihre Vorstellungen vom Leben und von der Ehe sind zu unterschiedlich. 13 Jahre geht ihr Leben so dahin, zwei Kinder helfen ihr ein wenig über die unglückliche Ehe und die Probleme des Alltagslebens - mit ihrem Mann, mit den DienstbotInnen, mit der Gesellschaft, in der ihr Mann sich bewegt und die sie nicht passt. Träumereien sind weiterhin ihre Zuflucht.

“Die junge Frau, die Liebe erhofft, findet nur Kränkung.”(W. Fred in einer zeitgenössischen Rezension, 1899/1900)

Sie erlebt eine neue Liebe, doch ist es eine Liebe, die dem Mädchen hätte genügen können, nicht aber der erwachsenen Frau, die dabei ist, zu sich zu finden. Auch die Beschreibung des mittelständischen Lebens im Deutschland des 19. Jahrhunderts ist bestechend und mit viel Ironie vorgetragen. “Und 'mit Gott für König und Vaterland' wurden lange Toaste gehalten, in denen es patriotisch wie von vertrockneten Eichenlaub raschelte.” Die Ich-Erzählerin ist auf ihrem Weg zu (Selbst-)Erkenntnis gnadenlos zu sich selbst. “Ja, ich bin mein eigener Feind gewesen. Nicht meinen Gatten trifft eine Schuld, nicht meine Mutter. ... Die Natur hatte doch keine Verpflichtung, sie gerade für mich zu schaffen. Meine Mutter war, wie sie sein konnte. ... Was wollte denn Walter? nicht ernst genommen werden. Warum nahm ich ihn denn ernst? ... Ach Arnold, ich glaube, meine Tugenden waren nichts als die weichlichen Instinkte einer mangelhaften Organisation. Und so bin ich - immer nur ein Schatten, den die anderen warfen - zu einer undefinierbaren, verschwommenen, farblosen Nichtindividualität geworden. Ich bin es geworden mit vollem Bewusstsein. Meine Seele zeigt rechts und ich ging links.” Kämen wir doch alle schon mit 30 zu dieser Erkenntnis!Marlene bezeichnet sich als “Schnecke mit Flügeln”, doch die Flügel nützen ihr nichts, “das Schneckenhaus ist zu schwer”. Ein Gefühl, das mir bekannt vorkommt. Es sind in erster Linie Frauen, die Marlene weiterhelfen: Charlotte, die ihr hilft, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden und zu bewegen, die Menschen zu erkennen; und Helena, die “Botin einer Religion”, der Theosophie nämlich, die ihr eine neue Perspektive bietet. Doch auch diesen Ausweg ihrer Heldin relativiert Hedwig Dohm, wenn sie schreibt: “Und wäre die Theosophie nichts als eine erhabene Dichtung und Helena eine ihrer Dichterinnen, ich würde ihre Atmosphäre doch wie Weihrauch atmen. Besser auf ein falsches Geleise geraten als auf ein totes. Man fährt dann wenigstens irgendwohin und mit dieser Lehre sicher nicht zur Hölle.”Rauschhaft schildert die Ich-Erzählerin Rom, doch gerade in Rom erkennt sie, “wie grausam es ist, was vorher für sie als Norm nicht sichtbar war: die omnipräsente Diskriminierung der Frau in einer zutiefst androzentrischen Gesellschaft. Das ihr widerfahrene Unglück liegt nicht in ihrer Persönlichkeit begründet, liegt nicht an ihrer Talentlosigkeit oder sonst einer Unzulänglichkeit, sondern einzig und allein an ihrem Geschlecht in dieser Gesellschaft, die ihr von vornherein Entwicklungs- und Entfaltungswege versperrt hat.” (Die Herausgeberinnen). Damit relativiert Hedwig Dohm die vorherige Gnadenlosigkeit Marlenes sich selbst gegenüber und beschreibt einen Entwicklungsweg, bei dem wir zunächst unseren eigenen Anteil an unserem Geschick erkennen und danach den der Gesellschaft.Täuschend schlicht sind Marlenes Aufzeichnungen - täuschend, denn wenn sie gegen Ende erkennt, daß ihr Unglück nicht in ihrer Person begründet liegt, sondern der Gesellschaft, in der sie lebt, immanent ist, spielt sie mit Erkenntnissen, Wahrheit und Lüge. Sie schreibt ihrem Freund Arnold, daß sie bei Tag die Geschichte ihrer Vergangenheit in Berlin aufschreibe und bei Nacht ihre Geschichte in Rom. Zugleich aber schreibt sie: “Ich lüge vom Morgen bis zum Abend.” Die Erfahrungen in Rom machen erst den ironischen Blick auf die Vergangenheit möglich, denn davor war sie für die größeren Zusammenhänge blind. Daher ist auch klar, daß diese Ironie bei der Beschreibung ihrer Zeit in Rom fehlt. Viel eher beschreibt sie diese Zeit wie in einem Rausch, wie einen Rausch - was meines Erachtens daran liegt, daß sie schwerkrank ist, schwindsüchtig, was ihr Erleben verändern muß. Daß sie von der Schwere ihrer Krankheit erfährt, weckt ihre Lebensgeister. “Ich - sterben! Jetzt! Nein. Unendliches habe ich noch zu denken.” Marlene setzt ihre Hoffnung in die Begegnung mit Helena, die Theosophie und eine Reise nach Indien. Mein erster Eindruck beim Lesen der letzten Seiten des Buches war, den Fieberwahn einer Sterbenden zu lesen. Wird Marlene wirklich gesund und taucht ein in eine neue Religion, die ihre Sinne und ihren Verstand gleichermaßen nährt, oder ist das die Vorspiegelung ihres schwerkranken, vielleicht sterbenden Gehirns, das sich ans Leben und die Zukunft klammert, dem der Körper aber die Unterstützung versagt? Auf diesen möglichen Aspekt ist keine/r der zitierten RezensentInnen eingegangen; einzig ein/e “N.N.” stellt fest, daß “das Werk, das in fest umrissenem Leben begonnen hat, dämmerhaft” ausklinge.
“Schicksale einer Seele” ist die Geschichte der Entwicklung einer Frau; genauer, in der damaligen Sprache, ihres Werdens.
Zeitgemäß erfolgt dies in Beschreibungen von Geschehnissen und Handlungen, nicht oder kaum von Innenschau. Doch die Geschehnisse und Handlungen ermöglichen uns einen tieferen Einblick in Marlenes Innenleben, als der längste innere Monolog es könnte. Die Distanz und Reflexion, die sich in der Ironie des größten Teils des Buches ausdrücken, werden zumeist nicht bemerkt und gewürdigt, auch nicht von feministischen RezipientInnen. Dies ist bedingt durch das gängige Vorurteil, “Frauen könnten nur unflektierter, 'natürlicher'- und damit schlechter - schreiben als männliche Autoren” und zementiert es zugleich. Doch wie könnte Hedwig Dohm, die Texte wie “Werde die du bist”, “Die neue Mutter”, “Die Ritter der mater dolorosa” geschrieben hat, tatsächlich “einfach” und “schlicht”, gar “stilistisch unbeholfen” schreiben, bar jeder Ironie? Der Gedanke ist mir unvorstellbar.Kluge Gedanken, beispielsweise zu Ehe und Mutterliebe, finden sich in diesem Roman reichlich. Vielleicht wird so manche, die der patriarchalen Vorstellung von Mutterliebe anhängt, aufschreien, wenn sie Zeilen wie diese liest: “Dass eine Mutter all ihre Kinder gleich lieben soll, ist eine falsche ethische Forderung. Meine Mutter hatte das Recht, mich nicht zu lieben, aber nicht das Recht, sich mir ungerecht und lieblos zu beweisen.” Ich kann dem nur voll und ganz zustimmen, da es dem entspricht, was ich seit Jahren vertrete. Die zeitgenössischen Rezensionen haben mir geholfen, den Roman in seinem gesellschaftlichen und zeitlichen Zusammenhang besser zu verstehen und haben mir zwar nicht zu Antworten, wohl aber zu neuen Fragen verholfen. Etwa wenn W. Fred festhält: “Das Weh der ganzen Zeitepoche drückt auch diese Frau, dass sie ihre Kräfte nicht betätigen kann, ist ihre Qual.” Damit verbindet er die Feststellung, daß dies nunmehr “fast Gemeinplatz” sei. Immerhin liegen zwischen der Handlung des Romans und seinem Entstehungsdatum an die 40 Jahre. Hat sich in dieser Zeit wirklich so viel geändert? Hat sich, frage ich mich, in den gut 100 Jahren, die zwischen dem Entstehen des Romans und heute liegen, so viel geändert? Fast jede von uns wird das Gefühl kennengelernt haben, “ihre Kräfte nicht betätigen” zu können!“Schicksale einer Seele” bildet zusammen mit “Sibilla Dalmar” und “Christa Ruland” eine Trilogie, wobei es, obwohl als zweites erschienen, chronologisch am Anfang steht. 1899 schrieb Hedwig Dohm, daß “Schicksale einer Seele” das Leben einer Frau erzähle, die heute (also: 1899) in den Sechzigern wäre, während Sibilla Dalmar in den Vierzigern wäre und der geplante Roman (der “Christa Ruland” wurde) der jungen Generation gewidmet sein werde. Jeder Text von Hedwig Dohm ist wunderbar, habe ich festgestellt. Eine begeisterte Fanin ihrer Essays war ich schon, jetzt hat sie mich auch (mehr als hundert Jahre nach Erscheinen des Buches!) zur Romanleserin gemacht. N.N. schreibt, daß das Buch “die hochbedeutsame Analyse einer modernen suchenden Seele” bietet, “es ist ein 'document humain' in feinster künstlerischer Ausgestaltung. Man darf es zu den Büchern rechnen, die nicht als Eintagsfliegen untergehen.” Dem kann ich mich nur anschließen. Dem trafo-Verlag ist für die Herausgabe von Hedwig Dohms Werk zu danken, ebenso den beiden Herausgeberinnen. Ich freue mich schon auf die nächsten Bücher!

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