Donnerstag, 26. Juni 2008

SKANDAL ROMAN: ”Sibilla Dalmar“ von Hedwig Dohm (1831-1919)

Rezension von Marlen Schachinger in Wolfsmutter.com von 22.12.2006: http://wolfsmutter.com/artikel437

Als der Roman ”Sibilla Dalmar“ 1896 erschien, löste er in der großbürgerlichen Gesellschaft Münchens einen Skandal aus. In der Edition Hedwig Dohm wurde er nun neuaufgelegt. Mag.a Marlen Schachinger hat ihn rezensiert."Mehr Stolz, ihr Frauen! Wie ist es nur möglich, dass ihr euch nicht aufbäumt gegen die Verachtung, die euch noch immer trifft. - Auch heute noch? Ja, auch heute noch. (...) Mehr Stolz, ihr Frauen! Der Stolze kann missfallen, aber man verachtet ihn nicht. Nur auf den Nacken, der sich beugt, tritt der Fuß des vermeintlichen Herrn." Hedwig Dohm(In: Die Antifeministen, 1901, S.164f.)Als Hedwig Dohms "Sibilla Dalmar" 1896 im S. Fischer Verlag erschien, war das Publikumsinteresse so groß, dass bereits im Folgejahr eine neue, leicht veränderte Auflage erschien - heutige AutorInnen können mehrheitlich wohl von derartigen Verhältnissen nur noch träumen.Was die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen ließ, war - wie könnte es anders sein? - ein Skandal. Deshalb fühlte sich die Presse zu immer neuen Statements bemüßigt, deren Aussagen zwar gänzlich uneinheitlich waren und von "stilistisch gelungen" bis "künstlerisch mangelhaft", von "zu pädagogisch" bis "moralisch bedenklich" reichten. Dies tat dem (Verkaufs-)Echo keinen Abbruch. Denn viel interessanter als die Frage nach der schriftstellerischen Qualität Hedwig Dohms erschien den ZeitgenossInnen die rasch geäußerte Annahme, die Autorin habe in der titelgebenden Hauptfigur des Romans ihre geliebte, älteste Tochter Hedwig Pringsheim-Dohm (die Mutter Katia Manns) porträtiert sowie - durch deren Blick - das Münchner Großbürgertum karikiert und bloßgestellt.Der Roman basiere, so wurde sogar mehrfach behauptet, auf (nicht auffindbaren) Briefen der Tochter an Hedwig Dohm, manche Passagen habe diese kaum verändert in ihr literarisches Werk übernommen. Eine Behauptung, welche die Herausgeberinnen Nikola Müller und Isabel Rohner im Vorwort zu ihrer Neuauflage "Sibilla Dalmars" widerlegen. Zudem: Was bei einem männlichen Autor als "Anregung" und "Inspirationsquelle" gewertet werde, gelte bei einer Frau rasch als Plagiat. "Die Problematik einer solchen Lesart besteht nun - wie bei jeder Lesart, die nur auf biographische ‚Tatsachen’ aus ist und einen Text in erster Linie als Quelle vermeintlicher Fakten liest -, darin, dass gerade die künstlerischen, gestalterischen Qualitäten des Textes nicht ins Blickfeld geraten, ja förmlich über-lesen werden. Dies ist in der Folge besonders bedauerlich, da gerade Sibilla Dalmar ein vielschichtiges Werk mit einem dichten intertextuellen und intermedialen Netz ist, mit einem für die Romankonzeption zentralen Wechselspiel zwischen Inhalt, Form und Stil. [...] Aus einer kreativen und klugen Schriftstellerin wird eine naive Abbildnerin." (S. 11) Übrigens erfuhr auch Hedwig Dohms Roman "Schicksale einer Seele" (1899) eine ähnliche Reduktion."Sibilla Dalmar" nun schildert den Lebensweg einer jungen Frau - von deren Mädchenjahren im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, der mangelnden Schulbildung, die einzig darauf ausgerichtet ist, sie zur Ehefrau und Mutter zu "bilden", doch nicht den eigenen Geist zu gebrauchen. Daraus resultierend auch die Unmöglichkeit, für sich selbst zu sorgen: "Es ist auch dafür gesorgt, dass eine Frau nicht so leicht auf einen Lorbeerzweig kommt. Uns fehlen die Arbeitsmittel, die dem Manne zu Gebote stehen: Wissen, Kenntnisse, hauptsächlich die Kenntnisse irgendwelcher realen Lebensgebiete. Ich z.B. weiß ungefähr, wie es in der eleganten Gesellschaft zugeht, was man da spricht, isst, trinkt und denkt. Von den weiten Gebieten der Politik, des wirtschaftlichen Lebens, der sozialen Zustände, von Arbeiter- und Künstlertum habe ich keinen Schimmer. Sollen wir wie die Seidenraupen alles immer aus uns selber spinnen? Ach, dabei spännen wir keine Seide, höchstens Kattun oder ein plundriges Ballkleid. Und spänne ich selbst auf dem Gebiete des reinen Denkens köstliche Seidenfäden, Ideen werden diskreditiert, wenn Frauen sie aussprechen, ihr Blütenstaub wird zur Befruchtung nicht weiter getragen. Man schweigt sie tot, weil man gar nicht an ihre Echtheit glaubt. Aber die Frauen würden daran glauben? Ach, Mutti, die denken auch heimlich, der Mann macht’s besser." (S. 162) Langeweile und geistige Frustration, ein Fest reiht sich an das andere, Besuch und Gegenbesuch, Liebeleien und Galanterien - alles mündet wieder und wieder in das Gleiche:"Dieses ewige Einerlei, das ist wie ein Wurm, um nicht zu sagen ein Totenwurm, der uns aushöhlt, zerbröckelt. Täglich immer dasselbe tun, um dieselbe Stunde, an demselben Ort. Um neun Uhr aufstehen, ein Bad nehmen, mich anziehen, frühstücken, mit der Köchin das Menü besprechen, die Zeitung lesen, der Spaziergang usw. Ich könnte darüber zur Selbstmörderin werden, dass ich mich jeden Morgen waschen muss." (S. 152)Sibilla selbst bezeichnet diese Zeit, in der sie lebt, als "Vorfrühling der großen Frauenbewegung", die da kommen wird; dessen ist sie sich sicher. Ebenso gewiss ist ihr, diese werde erst nach ihrer eigenen Lebenszeit blühen - darin liegt kein Trost. Wäre sie ein Mann, so sagt Sibilla, wäre sie vielleicht Spencer oder Stuart Mill oder Nietzsche geworden, und:"Ach ja, wir armen, um ein paar Jahrzehnte zu früh geborenen Mädchen. Hineingeboren bin ich zwischen Morgengrauen und Tag. Ich bin doch schuldlos daran, dass ich zwischen den Kulturen geklemmt bin, dass ich nicht rückwärts kann zu den spinnenden, strickenden Hausfrauen und nicht vorwärts zu den freien Geschlechtern, die nach mir kommen werden. In dem rauen Vorfrühling der Frauenfreiheit gehen wir armen Schneeglöckchen zugrunde. ‚Es fällt ein Reif in der Frühlingsnacht.’ Wir Frauen unserer Zeit sind wie die eingefrorenen Töne in Münchhausens Trompete. Aber wenn die Zeit des Auftauens, wenn die Sonne da ist, sind wir nicht mehr. Ich will die Sonne aufgehen sehen. ‚Gib mir die Sonne, Mutter!’" (S. 165)Wieder und wieder beschäftigt Sibilla Dalmar die Frage, wohin sich die Gesellschaft entwickeln wird, was alsdann die Moral wohl gebieten mag ...:"Ob man nicht in hundert Jahren vielleicht unsere Auffassung der Ehe, die das Weib zu lebenslänglicher Hingabe an ein bestimmtes Individuum verpflichtet, als schamlos, als eine Vergewaltigung der Natur brandmarken und als einen Nonsens verlachen wird? Und ob Physiologen nicht entdecken werden, dass die solcher Zwangsehen entsprossenen Kinder inferior organisiert sein müssen? Und ob nicht die Anschauung, dass junge, starke und blühende Liebestriebe guter und wissender Menschen zu unterdrücken seien, dem Spott verfallen wird, wie jetzt etwa die Meinung, als dürfe man den physischen Durst nur mit einem bestimmten Getränk löschen, etwa mit Weißbier, das mir vielleicht widersteht, besonders wenn Champagner daneben steht. Der gute und intelligente Mensch weiß in seinen besten Momenten vollkommen, was er darf und was er nicht darf." (S. 136)Sibilla Dalmar liest wahllos, was ihr unter die Finger kommt; und daneben mit Vorliebe Nietzsches Schriften, auf die sie wiederholt Bezug nimmt, aus denen sie zitiert, seine Thesen indirekt und direkt philosophiert. So werden "seine Werke in einem Raum rezipiert, für den sie nicht geschrieben sind: Die Divergenz zwischen Nietzsches Philosophie und der Lebenswirklichkeit einer Sibilla Dalmar, einer bürgerlichen Frau mit dem typisch weiblichen Bildungsgang und adäquater Rollenzuweisung, springt förmlich ins Auge." (S. 15) Sibilla wird zur Nietzsche-Karikatur, seine Subjekt-Konzepte werden als rein männlich entlarvt. Hedwig Dohm selbst verehrte Nietzsche als Philosoph der "Umwertung aller Werte" und war daher von dessen antifeministischen Äußerungen um so mehr enttäuscht. Auf einer Wanderung lässt die Autorin ihre Romanfigur Sibilla einen jungen Sozialisten kennen lernen; mit den Ideen dieser Partei sympathisierte sie bereits seit längerem:"Denken wir uns Europa einige Jahrhunderte fortgeschritten - aller Wahrscheinlichkeit nach würden Gesetze, Institutionen, Bräuche, die heute kategorische Pflichtgebote sind, als Rückschläge in eine finstere Barbarei Gelächter und Staunen erregen. Als Barbarei würde es erscheinen, dass nicht die Wesensart des Menschen über sein Schicksal entscheidet, über seinen Beruf, seine Stellung in der Welt usw., sondern der Zufall, seine Geburt. Als Barbarei, dass ein Untermensch auf dem Thron sitzen, ein Übermensch am Wege Steine klopfen kann. Barbarei, das möglicherweise ein Gemeindenkender als Richter über einen Edelsten von Gesinnung aburteilen kann. Barbarei die heutige Zwangsehe, Barbarei der Krieg usw." (S. 222) Um seinetwillen verlässt sie - nach einigem Zögern - ihren Bankiersgatten, gebiert sein Kind. Enttäuscht darüber, dass es nicht die ersehnte Tochter ist, stirbt Sibilla Dalmar im Kindbett.Dem Roman ist - neben einer literaturhistorischen Einführung - ein rezeptionswissenschaftlicher Handapparat beigefügt, was diese Ausgabe auch aus sozialhistorischer Sicht interessant macht. "Sibilla Dalmar" soll nicht das einzige Werk dieser Autorin bleiben, das neu aufgelegt wird; eine kommentierte Gesamtausgabe ist geplant. Informationen zu Leben und Werk der Autorin finden sich des weiteren auf http://www.hedwigdohm.de/, gestaltet von den beiden Herausgeberinnen der Werke Hedwig Dohms; eine höchst informative und übersichtliche Website, auf die sich mehr als nur ein Blick lohnt.

Keine Kommentare: