Mittwoch, 25. Juni 2008

Hedwig Dohm - Schicksale einer Seele (Roman)

Schon früh galt der Roman Schicksale einer Seele als Hedwig Dohms Autobiografie – ein schwerwiegender Fehler, wie sich heute herausstellt. Die Gleichsetzung mit der Figur Marlene verschob die Lebensdaten der Autorin Dohm und führte zu hartnäckigen Gerüchten über ihre Ehe. Verhängnisvoll wirkte sich die biografisierende Rezeption auch auf die literarische Bewertung des Romans aus. Sie versperrte die Sicht auf ein Werk, das sprachlich raffiniert die Entwicklung einer jungen Frau im 19. Jahrhundert beschreibt: von der Naiven, die ihre gesellschaftliche Unmündigkeit als Frau nur sprachlos fühlen kann, hin zur Erkennenden, die zu dieser Welt, in der Frauen sich nicht entwickeln dürfen, auf ironische Distanz geht.

Schicksale einer Seele ist der zweite Band der Edition Hedwig Dohm, der kommentierten Gesamtausgabe der Werke der Schriftstellerin und Publizistin, Theoretikerin, Essayistin und Radikalen der ersten Frauenbewegungen in Deutschland, Hedwig Dohm (1831-1919).

Dohms Roman wird in dieser Ausgabe ergänzt von den zeitgenössischen Kritiken (u.a. von Ricarda Huch) und einer Einleitung der Herausgeberinnen.

Nikola Müller & Isabel Rohner (Hg.): Hedwig Dohm - Schicksale einer Seele. Berlin: Trafo Verlag 2007. 321 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 3-89626-561-X

Zitate aus dem Roman:
"Mir fehlte es auch für ernste Lektüre an Ruhe. Immer war mein Sinnen und Trachten auf Walter gerichtet, und auf meine Hausfrauenpflichten. Da tauchte vielleicht plötzlich mitten in einem schwierigen philosophischen System ein Stück Käse vor meinem inneren Auge auf, das ich vergessen hatte, unter die Glasglocke zu stellen, oder der Schreck über das Bier, das wieder einmal nicht auf Eis lag, überwog das Interesse an Kants Zeit- und Raumproblemen."

"Jason, ich weiß ein Lied. Ich weiß etwas, was andere nicht wissen, oder wenn sie es wissen, sagen sie es nicht. Vermorschtes hält zusammen, so lange es eingesargt bleibt, sei es in einem menschlichen Gehirn, sei es in starren Sitten, sei es in einem wirklichen Sarge. In Luft und Licht gelangt, zerfällt’s in Staub.
Klug ist die Zeit, so klug! Unaufhaltsam schreitet sie ihrem Ziel zu. Aber die Zeit hat auch ihre ungeheuren Dummheiten, ihre Gespensterkammern wie auch die klügsten der Menschen sie haben. Und eine dieser Jahrhunderte-Dummheiten will nun in Luft und Licht gelangen, und in Staub zerfallen wird ein Riesen-Ghetto der Welt.
Jason, ich weiß ein Lied! Jason wollte das Lied der Medea nicht hören. Du wirst das meine auch nicht hören wollen. Der Text verschwimmt mir noch, die Melodie aber rauscht wie mit Psalter und Harfe durch meine Seele."

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